Sprache

Dissen oder Dissonanz? Der Streit von heute in Bild und Ton

Im virtuellen Raum dehnt die Streitarena sich ins nahezu Unendliche aus. Wie einst der Brief lösen heute Film, Fernsehen und soziale Medien die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht mit technischen Mitteln ab und vergrößern nicht nur den Raum der Streitenden, sondern vor allem auch den der Teilnehmenden, des Publikums. Die unterschiedlichen Formate der Kinoleinwand, des Fernsehers oder des Smartphonescreens schaffen jeweils eigene, spezifische Arenen der Auseinandersetzung.

Video Poster

Die Jahrhundertschlacht

Das Zusammenspiel von Praktiken des Streitens und Amüsement bildet kein Genre pointierter ab als der Slapstick. Der Name ist hier wörtlich zu verstehen: Auseinandersetzungen werden spielerisch körperlich gelöst, indem sich die Akteur:innen gegenseitig mit Schlaghölzern traktieren. Das Genre steht in einer langen komödiantischen Theatertradition der Clownerie, Zirkusnummer und Jahrmarktsdarbietung. Mit dem Kinofilm wurden die Streitenden überlebensgroß, während das Publikum in den abgedunkelten Kinosaal rückte. Immersiv und doch distanziert zeigt die »Schlacht des Jahrhunderts« von Laurel und Hardy ab Minute 10:55 eine Eskalation, die voyeuristisch genossen werden darf.

Video Poster

»Ich find’ Dich Scheiße« — Die eskalierende Pressekonferenz im TV als gescheiterte Versöhnung

Die 1995 gegründete Band Tic Tac Toe war eine der bekanntesten und beliebtesten deutschen Teenie-Bands. Sie machten den deutschen Pop diverser, brachen in ihren Texten mit Tabus, thematisierten offen zum Beispiel Sex, Gewalt oder gar toxische Männlichkeit und verkörperten das Laut- und Frechsein, womit sie im krassen Gegensatz zu anderen sogenannten »Girlgroups« ihrer Zeit standen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere veröffentlichte die Boulevardpresse Details aus ihren früheren Lebensphasen und setzte die Band unter Druck.

Eine Pressekonferenz sollte öffentlich zeigen, dass die Band gestärkt aus der Situation herausging. Umso rätselhafter erscheint das mittlerweile legendäre TV-Interview, in dem sich die Band nach einem lautstark eskalierten Streit öffentlich trennte. Viele Fans waren enttäuscht und vermuteten eine inszenierte und strategisch emotionalisierte Konfliktsituation. Im Nachgang wurden Tic Tac Toe in den Medien erneut sexistisch diskriminiert und als überemotionalisierte streitende Frauen verunglimpft.  

Auf Barhockern wird eine ungezwungene Gesprächssituation inszeniert, die den Eindruck von Nähe zu den Protagonistinnen herstellt – obwohl sie eigentlich auf einer Bühne sitzen und nach vorn zum Publikum mit dem Mikrofon öffentlich kommunizieren.

Als Ausdruck der Empörung werden Mund und Augen aufgerissen. Als Drohgebärde und bekannte herabsetzende, autoritäre Geste wird mehrfach der Finger erhoben und auf die Kontrahentin gerichtet – fast wie ein symbolisches Erstechen (hier mit Anschuldigungen).

Video Poster

Text & Performance: FAKKT
Beat: flo

Directors: Leef Hansen & Anna Schürmer
DoP: Lars Drawert
Electrician: Pascal Kolbe
Editor: Vahid Zarei
Producer: Claus Veltmann & Leef Hansen
Make-up-Artist: Maria Harder
Set-Photography: Carolin Scheidt

FAKKT — »Gift«

Rap kann als künstlerische Streitkultur par excellence gelten, die sowohl szenisch-visuelle, als auch sprachlich-akustische Dimensionen umfasst. Ihren performativen Ausdruck findet sie in ,Battles‘, in denen das ,Dissen‘ mit Worten, Gesten und Posen zum Stilmittel erhoben wird. Diese kulturellen Praktiken des Streitens gehen häufig mit einer formalisierten Darstellung von Spott und Beschämung einher. Das Genre ist daher attraktiv für künstlerische Tabubrüche, mit denen die Grenzen des Sagbaren immer wieder neu verhandelt und in Szene gesetzt werden.

Der hallesche Rapper FAKKT schlüpft in seinem Beitrag für die Ausstellung in eine Rolle: Der Künstler begibt sich textlich, akustisch und visuell in einen Zustand der Auseinandersetzung mit Innen- und Außenperspektiven des ,Dissens‘, was sich im Musikvideo an stilisierten Gesten, Posen und Sprechakten zeigt. Im Exponat wird bewusst mit unsichtbaren und sichtbaren Maskeraden gespielt. Das Gesagte und Gezeigte versteht sich als eine Interpretation zeitgenössischer digitaler Hasskommentare, die als Fragmente aufbereitet und im Rap (selbst-)kritisch verarbeitet werden.

Text & Performance: FAKKT 
Beat: flo 
 
Directors: Leef Hansen & Anna Schürmer 
DoP: Lars Drawert 
Electrician: Pascal Kolbe 
Editor: Vahid Zarei 
Producer: Claus Veltmann & Leef Hansen 
Make-up-Artist: Maria Harder
Set-Photography: Carolin Scheidt

Wo liegen die Grenzen des Sagbaren? 

So zeitlos wie das Streiten selbst ist auch die Kunst der beißenden Kritik. Welche:r Musiker:in wird hier regelrecht verrissen? Raten Sie mit! 

1. „…Wäre eine Katze krepiert und sogar Felsen wären vor Angst vor diesen scheusslichen Misstönen zu Eierspeisen geworden…Der Anfang des dritten Satzes ist ein Lärm zum Ohrenzerreissen… Die ganze Scheisse kannst du in 100 Takten ausdrücken, denn immer das Gleiche und immer gleich langweilig.“

2. „In Aufsuchung ohrenzerreissender Dissonanzen, gequälter Übergänge, schneidender Modulationen, widerwärtiger Verrenkungen der Melodie und des Rhythmus, ist X ganz unermüdlich… Hätte X diese Composition einem Meister vorgelegt, so würde dieser sie ihm hoffentlich zerrissen vor die Füsse geworfen haben, was wir hiermit symbolisch thun wollen.“

3. „Hier kommt sie der Darstellung menschlicher Gefühle näher als sonst, aber sie klingt immer noch wie ein Roboter […]. Das Hauptmerkmal von X Stimme ist nämlich eine Art messerscharfe Leere, eine mechanistische Präzision, die nur selten Raum für echte Gefühle lässt, die sich ihren Weg bahnen. Und diese Leere, gepaart mit X eklatantem Mangel an technischem Gesangstalent, macht sie zu einem wahrhaft unwahrscheinlichen Popstar.“

4. „X […] hat eine gewöhnungsbedürftige Stimme. Zunächst klingt sie nach gar nicht so viel. Dann bemerkt man ihr einziges Unterscheidungsmerkmal, einen mädchenhaften Schluckauf, den die Sängerin immer wieder benutzt, bis er verdammt nervt.“

1. Richard Wagners „Siegfried“ verrissen von Richard Strauss in einem Brief an Ludwig Thuille, 1879

2. Frédéric Chopins „Mazurka op.7“ verrissen von Ludwig Rellstab in Iris, 1833

3. Rihannas „Good Girl Gone Bad“ verrissen von Tom Breihan in Pitchfork, 2007

4. Madonnas „Everybody“ verrissen von Don Shewey in Rolling Stone, 1983

 

Verrisse aus: „Lexicon of Musical Invective. Critical Assaults on Composers Since Beethoven’s Time“ von Nicolas Slonimsky (1953 / 2000)

Kapitelauswahl

Check-In

Kupferstich auf dem man verschiedene Personen auf einem Marktplatz sieht

Streitarena Marktplatz

Streitarena Hof

Streitarena Screens und Sounds

Infos zur Ausstellung

Logo - Bundesregierung (Medien und Kultur)
Logo - Freundeskreis der Franckeschen Stiftungen
Logo - Sachsen Anhalt (Kultusministerium)